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Wolken.

Ein Phänomen der Unschärfe und seine Folgen

Andrea Sick

Wo immer man versucht Wolken als Ding in den Blick zu nehmen, wird man sich ihres auflösenden, schnell verschwindenden Charakters gewahr. Wolken sind Schleier des Realen, Produkte eines fiktiven Raums, Halbdinge, Vermittler zwischen Ding und Medium.

Dennoch wurde in der Meterologie schon im 19. Jahrhundert versucht diese vergänglichen Erscheinungen einzuteilen, zu klassifizieren und zu ordnen. Eine Widererkennbarkeit der nebulösen Formen sollte ermöglichen (Wetter-)Vorhersagen treffen zu können. Es entstanden repräsentative Wolkenfotografien, in internationalen Wolkenatlanten zusammengefasst. Cirrus (Federwolke), Cumulus (Haufenwolke), Stratus (Schichtwolke), Nimbus (Regenwolke) heißen die bekanntesten Formen. Als Giftgaswolken des 1. Weltkriegs und Atompilze waren sie zugleich apokalyptisches Emblem.

Diese ontologische Seltsamkeit der Wolke, als ein verschleierndes Halbding nur flüchtig in Erscheinung zu treten und doch aber in einer Ordnung fixiert zu werden, prädestiniert sie für Sachlagen und Erscheinungen im Web 2.0. Die Wolke ist hier mehr als Metapher für eine Ästhetik der Flüchtigkeit im Spannungsverhältnis zwischen Erscheinung und Verschwinden. Die Wolke markiert einen Unschärfebereich, eine Verfransung von Raum und Zeit und ist heute Kennzeichen der Wissensbildungsprozesse im "Web der Amateure".

So ist es nicht erstaunlich, dass im Zuge der allseits beliebten Dienste wie YouTube, Flickr, Google Maps und Google Earth, Wikipedia aber auch im Zuge des explosions-artigen Anstiegs von digitalen sozialen Netzwerken wie StudiVZ, Facebook, MySpace, Wikis, Pods und Blogs, Internetshopping und Twittern das "Rechnen im Netz" nicht nur von der IT-Branche propagiert wird. Seit 2008 geistert das neue Schlag- und Modewort: "The Cloud" durch das Internet und andere Medien. Ansinnen des entsprechenden Verfahrens ist es Dokumente, Internetseiten, Fotos oder Videos künftig nicht mehr auf dem heimischen Rechner abzulegen, sondern irgendwo "in der Wolke", womit riesige, über die ganze Welt verteilte dezentralisierte Datenzentren gemeint sind. Die Internetnutzer können dann überall und mit allen Geräten auf ihre Daten zugreifen und mit anderen Nutzern teilen. Ein offenes Konglomerat entsteht, ganz dem unscharfen Wolkenhalbding entsprechend. Wo die Daten tatsächlich gespeichert sind, spielt keine Rolle mehr. Nutzer und Entwickler des Web 2.0 äußern Begeisterung über diese kollektive Wissensformation in einer "Kultur der Unschärfe" – gerne auch als Wolkenintelligenz bezeichnet. Was zunächst trivial klingt, hat auf verschiedenen Ebenen gravierende Konsequenzen, bisher insbesondere für die moderne Unternehmenskultur. Keine teuren Netzwerkrechner mehr, keine dicken Heimcomputer, sondern mieten bei Bedarf, so werden die Vorteile propagiert. Denn entsprechende Kapazitäten, Programme, Speichervolumen und andere Daten stehen "in der Wolke" zur Verfügung. Softwarehersteller bieten via Internet "Software als Service" an. Einen Vorgeschmack gibt der Internetgigant Google: Texte, Tabellen, Fotos, der Terminkalender und natürlich die E-Mails können mit kostenlos nutzbaren Programmen erstellt, verwaltet und gespeichert werden und laufen nur noch im Internet. Cloud Computing, das Rechnen in der Wolke, ist eine gewaltige Vision, die IBM (Blue Cloud) und Microsoft zu realisieren suchen, Yahoo und HP wieder aufgegeben haben, Amazon (Elastic Compute Cloud) schon praktiziert und Google tatkräftig vorantreibt.

Die Wolke des Web und ihre Verfransungen werden durch die zunehmende Datenflut von Tag zu Tag größer. Laut aktuellen Angaben der Netzbetreiber verdoppelt sich das Datenvolumen im Internet alle zwölf Monate. Hinzu kommen Satelliten, Sensoren, Funkchips und Überwachungskameras, sie alle sammeln Daten von der Umwelt, Kriegschauplätzen, Kaufvorgängen, Straßenzügen und Körpervorgängen etc. Unermessliche Datenberge werden zusammengetragen. Form und Struktur der sich ausdehnenden Wolke wird stetig durch den an der Unterhaltungsindustrie orientierten Einsatz von neuen Tools erweitert. Cloud Computing zu praktizieren heißt einerseits sich in der Unschärfe und Flüchtigkeit des Datenmeers verlieren zu können, anderseits aber in standardisierten Prozessen der Softwaregiganten genau dieses zu "schürfen".

Neben all der strukturierenden Wolkentechnologie werden auch regelrechte Überflutungsszenarien in Aussicht gestellt, in denen sich die Hervorbringung von Informationen verselbstständigt und unkontrollierbar wird. Ob nun unscharfe Wolken oder grenzenlose Überflutung: die vielfach in einer "Intimität der Langeweile" erzeugten Daten gelten für alle Branchen als umfassendes ökonomisches wie politisches Potenzial. Genutzt nicht nur zur privaten Wissensbildung, sondern auch für Terrorismusbekämpfung, Marktanalysen, in Medizin und Gesundheitsforschung, Militär, Pädagogik und Unterhaltungsindustrie. Ein Grund mehr, warum stetig Wissenstechniken und Programme (Tools) zur Erfassung und Archivierung digitaler Nutzung – zur Evaluierung – entwickelt werden, um die Datenflutung zu archivieren, die all zu konturlose Wolke zu kontrollieren und aber auch um ihr wieder und wieder neue Daten hinzuzufügen.

Das Spektakel der Überwachungskultur zeigt sich als Auswuchs einer Wolkenvision. Wir können nicht leugnen: Die Wolke in all ihrer Unschärfe und Flüchtigkeit produziert manifeste Standards und globale ökonomisch-politische Effekte wie den Evaluationszwangs und andere Kontrollmechanismen.